11.09. - Schlüpferleinen...

Luise

 

Mit lautem Donnergrollen und Regentrommeln weckt uns der Regenwald mitten in der Nacht. Ein Schnarchen höre ich noch, der Lärm kann also nicht so gewaltig sein. Aber die frühmorgendliche Vogelbesichtigung an den Hängen des rio de madre dios fällt aus.

 

Nach Eierkuchen mit Caramel zum Frühstück geht’s zum Ziplining. (Meine Abneigung gegen Süßes beginnt und soll auch in Zukunft ungewohnte Ausmaße annehmen.) Nur Heda macht sich zu einer Tour durch das Dschungeldickicht abseits der Wege auf. Mit Clever und Machete bewaffnet erobert sie sich entgegengesetzt unserer Route die unentdeckten Pfade. Swantje, Fabi, Magda und ich werden zu einer Hütte etwas entfernt der Lodges geführt. Vier Rucksäcke stehen davor, zwei Männer dahinter. Der eine klein mit breitem Grinsen. Der andere klein... mit Hut und Surferboyerscheinung.

 

Es ist unerträglich warm. Die Mischung aus Schweiß, Sonnencreme und Mückenspray läuft mir über die Lippe in den Mund und verleiht dem stolpernden Gang noch einen bitteren Beigeschmack Der kleine Peruaner Nummer eins (seinen Namen habe einfach nicht verstehen können) führt uns in die Wildnis. Die Pfade gehen über ausgespülte Wurzeltreppen steil bergauf. Die Griffe der Doppelseilrolle stechen mir durch den Rucksack in den Rücken. Unser Anführer spricht über jeden Baum, über jedes Blatt... also das vermute ich. Sein Englisch wird durch genuschelte Schüchternheit nicht gerade verständlicher. Irgendwann schalte ich ab und konzentriere mich nur darauf nicht zu schmelzen. Angekommen an der Ziplining Station machen wir erstmal eine kurze Verschnaufpause. (Erst während der Nacharbeit fiel mir auf, dass es ja ZIPlining und nicht SLIPlining heißt... Luise und ihr Schlüpferfetisch wieder...) Wir packen die Rucksäcke aus und setzen die stinkenden und viel zu engen Helme auf. Zuletzt folgen die Handschuhe und ich schwöre, für einen Moment wäre ich die 10 000 Kilometer innerhalb von zwei Sekunden wieder nach Hause gesprintet. Die Fusselvariante mit Überstülpfunktion liegt grau und sterbend in meinen zu bedeckenden Händen. Ein Geruch von moderndem Plastiktextil weht mir entgegen. Textilien Perus...ich seh´ schon... Dafür hat sich die Reise gelohnt... und für die Ekelblase die mir gerade an der Lippe wächst. Aber es hilft ja alles nichts. „Für die Horde!“, verkneife ich mir zu rufen und fahre in die Handschuhe. Meinen inneren Konflikt nicht mitbekommen, hat der kleine Peruaner Nummer eins alles fertig erklärt. Die Mädels schauen skeptisch und nicht unbedingt fröhlich. Von dem hölzernen Gestell führt eine dünne Schnur über eine grüne Schlucht und endet außerhalb unseres Sichtfeldes. Ich bin begeistert. Wenn ich schon die Lebrahandschuhe trage, dann soll es sich auch lohnen. Ich will unbedingt als erste! Kleiner Peruaner Nummer zwei Kettet sich schon mal an die Doppelrolle. Mit nur einer Hand am Griff fährt er los... die coole, coole Sau! Nummer Eins erklärt noch irgendwas, aber keiner scheint es so wirklich zu verstehen. Er winkt uns zu sich heran. Jetzt geht’s los. Ich schaue in wenig überzeugte Gesichter.

 

„Soll ich als erstes?“, frage ich in lässigem Ton, als sei es das unwichtigste auf der Welt. Innerlich mache ich mich schon für die gnadenlose Verteidigung meiner selbsterdachten Vormachtsstellung bereit.

 

„Luise, mach ruhig.“

 

YESSSS, triumphiert es in meinem Kopf.

 

„Gut“, sage ich nüchtern und lasse mich von Nummer eins einkarabinern. Mit angehobenen Beinen sitze ich in den Seilen. Ich löse die Bremse und die Fahrt beginnt. Die großen Bäume lasse ich hinter mir und plötzlich schwebe über dem Urwald. Das zippen der Leine (*Vorsicht Wortwitz*) wird immer pfitschiger. Ich bremse ab und die Zeit vergeht wie in Zeit Lupe. Aufgescheuchte Vögel fliegen über mich hinweg. Unter mir die Lunge der Erde. Ich fühle mich wie Jack Sparrow, der auf halsbrecherische Weise gerade wieder einer brenzligen Situation entkommen ist. Nummer zwei winkt von der nächsten Plattform ungeduldig herüber. Ich lasse die Bremsen los und will bis zur nächsten Plattform rollen, aber der Schwung reicht nicht mehr. Zehn Meter vor dem kleinen Melkhocker, der einem als Landepunkt auf der genagelten Ebene dienen soll, komme ich zum stehen. Lässig drehe ich mich in 30m Höhe um hundertachtzig Grad und hangel mich weiter... ganz lässig... die ersten zwei Meter. Der letzten acht bedarf es einer Anstrengung, die mein weißes, ebenmäßiges Mondgesicht in das eines grobschlächtigen, von Verstopfung geplagten Wrestlers verwandeln. Bei Meter fünf geht es nur noch zentimeterweise voran. Auf Meter sieben kann ich mir ein stöhnendes Luftholen nicht mehr verkneifen. Das war der Hinweis, den uns Nummer eins zum Schluss gegeben hat: Fahrt durch, nicht anhalten... ach was... die Aussicht war es wert. Fabi, Magda und Swantje, einer nach dem anderen, fahren mit rasantem Tempo auf uns zu. Fabi braucht beim ankommen übrigens keinen Hocker. Jeder von ihnen strahlt.

 

„War doch lässig, oder?“, sag ich. Meine Oberarme zittern leicht. Es liegen noch zwei Bahnen vor uns.

 

 

Der Wald verdichtet sich wieder. Aufgrund unserer Höhe befinden wir uns über den Gebüschen und kleineren Pflanzen, die uns normalerweise vom Erdboden aus die Sicht in alle Richtungen verbieten. Der Anblick ist ehrfurchterregend: Die dicken Stämme der Bäume folgen einer nicht definierbaren Regelmäßigkeit. Jede Rinde ist anders gemasert oder mit einer anderen Pflanze verziert. Noch nie habe ich so viele Blattformen an einem Ort gesehen. Vielleicht war das auch einer dieser vielen Schlüsselmomente dieser Reise. Und ohne jetzt allzu theatralisch und altklug zu wirken, wurde mir doch in jenem Augenblick die Verantwortung, die ich gegenüber meiner Umwelt habe, mehr als deutlich bewusst. Der tief empfundene Wunsch, diese Geschenke um uns herum zu schützen und zu pflegen, war noch nie so stark. Und dieses Gefühl wird mich auch noch lange nach der Reise tragen und beschäftigen.

 

 

 

 

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