19.09. - Wüste...

Luise

 

Halb sieben Uhr morgens wandern Heda und ich durch die dunklen Straßen. Die Sonne steht noch sehr tief und beleuchtet alles in einem diffusen Licht. Die Frau am Ticketschalter lächelt, als sie uns sieht, wir haben also Eindruck hinterlassen. Mit der Fahrkarte in der Hand laufen wir zum nächstbesten Bus. Der Fahrer wirft uns ein unverständliches Wort entgegen. Wir lächeln nur.

 

„Inglés! Inglés!“, ruft einer der Mitarbeiter lachend. Jemand zum Übersetzen wird angefordert. Doch „Metallic Tower“ versteht er dann doch und wir dürfen einsteigen. Wir setzen uns direkt hinter den Fahrer, um im Notfall Blickkontakt aufnehmen zu können. Auf den flimmernden Bildschirmen läuft ein Animationsfilm… ich schaue mich im Bus um… Kinder sind hier nicht zugestiegen. Es dauert fast den ganzen Film, bis wir endlich losfahren. Nach wenigen Minuten hält der Bus an und die Ticketverkäuferin fährt auf einem Motorrad vor und bringt noch das Wechselgeld vorbei. Der Bus fährt an, um dann wenige Meter weiter wieder anzuhalten. Noch mehr Leute steigen zu. Mitten an der Straße. Heda sitzt am Gang, beobachtet und erzählt mir, was da vorn passiert. Ich protokolliere.

 

Vor dem Bus fährt plötzlich ein Auto ganz dicht. Aus dem Fenster auf der Fahrerseite streckt sich eine Hand und bedeutet unserem Gefährt anzuhalten. Beide halten an und eine Omi steigt die steilen Stufen zu uns hinauf. Ich bin beeindruckt. Wenn ich mal alt bin, will ich auch so eine Ausstrahlung haben. Die kleine Kugel im fein gemusterten Kleid und ölig, weiß zurückgekämmten Haaren mustert den ganzen Bus mit einer Autorität, die sieben Sonnen gefrieren lassen würde. Ihr bohrender Blick verweilt auch eine Sekunde länger auf uns zweien. Dann setzt sie sich rechts von uns auf die andere Seite des Ganges. Der Mann am Fenster direkt neben ihr, zunächst abgelenkt durch den sprechenden Esel im Film, bemerkt die Dame neben sich und ist bemüht nur die Hälfte seines Platzes einzunehmen.

 

In harrschem Tonfall fragt sie den Fahrer:

 

„Wo kommen die zwei her?!“

 

Der Busfahrer, der wieder anfährt, stottert kurz rum:

 

„Die eine aus Deutschland. Die andere weiß ich nicht, was das für ein Land ist.“

 

Wir halten erneut. Ein Mann hüpft kurz raus, drückt einem anderen Mann etwas in die Hand und springt zurück in den Bus.

 

Wir verlassen endlich die Stadt und durchqueren die steinige Wüste.

 

Die Omi verlangt nach Musik. Der Fahrer macht das Radio an. Von hinten beschwert sich jemand über die laute Musik. Das wird aber gekonnt ignoriert.

 

Ich schaue aus dem Fenster. Die Gummierung der Glasscheibe fehlt an einer Stelle und kalter Wind bläst mir ins Gesicht. „Arriba! Arriba!“, singt der Mann im Radio. Es ist einer dieser furchtbar kitschigen Momente mit diesem Freiheitsgefühl in der Brust. Ich bin einmal mehr dankbar für die Welt, dass sie ist, wie sie ist und dass sie mir die Möglichkeit gibt, das zu tun was ich mir wünsche… zum Beispiel einmal um die halbe Erdkugel zu reisen.

 

Der aufmerksame Fahrer lässt uns am Aussichtsturm aussteigen. Wir klettern die stählerne Konstruktion hinauf und bekommen einen Überblick über zwei der Figuren, die Hände und den Baum… ich sehe Linien… in den Boden gegraben. Für mich ist es das selbe Phänomen wie auf Machu Picchu: Ich bin wenig beeindruckt von der Sache die angepriesen wird, kann mich aber in der flachen Landschaft und den düsteren Bergen verlieren. Niemand kennt den genauen Ursprung der bis zu zwei Kilometer langen Geoglyphen. Die Scharrbilder wurden erst in den 40er Jahren weltweit durch Maria Reiche bekannt. Die deutsche Mathematikerin verschrieb sich voll und ganz der Entdeckung und der Erhaltung dieser Linien. In Nazca wird sie beinahe wie eine heilige verehrt. Überall sieht man ihr Bild, überall liest man ihren Namen. Das Museum liegt nur drei Kilometer von unserem Standort entfernt.

 

„Laufen wir!“, rufe ich freudestrahlend. Genau so hab ich mir das vorgestellt. Am Highway entlang durch die Wüste, als einzige Menschen weit und breit. Und es ist noch nicht mal neun. Die Sonne glüht, aber vom kalten Boden weht ein frischer Wind. Links und rechts der Straße ziehen sich Berge aus Kies und Geröll hinauf. Wir laufen immer schön am Rand der Anhöhe, da uns gelb leuchtende Schilder vor angeblichen Landminen warnen.

 

„Das schreiben die doch eh nur, damit niemand auf ihre kostbaren Linien tritt.“

 

Heda dreht sich zu mir um und zieht die Augenbrauen hoch. Telepathisch vermittelt sie mir:

 

„Nein, Luise, wir probieren das jetzt nicht aus.“

 

Die Aufschüttungen werden immer höher und bald gibt es keine Möglichkeit mehr zum Abstieg. (Und Heda lässt es mich auch nicht ausprobieren.) Wir gehen einen Teil des Weges zurück und laufen direkt an der Straße entlang. Ein paar Zweifel hab ich doch, zwischen den Aufschüttungen haben wir keine freie Sicht, was wenn wir doch in die falsche Richtung gehen oder das Dorf, dass wir suchen, gar nicht existiert… ist ja schon mal vorgekommen. Langsam wird es heiß. Das Stativ in meinem Sparkassen-Turnbeutel sticht mir unangenehm in den Rücken. Bei der nächsten großen Reise bleibt es daheim. Heda kann natürlich wieder zuerst über die Berge sehen.

 

„Da vorne ist Stadt! Wir überleben!“

 

Am Maria-Reiche-Museum angekommen, bezahlen wir zwei Tickets. Der Verkäufer lächelt uns an und schaut erwartungsvoll Richtung Eingang. Als wir uns die ersten Tafeln an der Hauswand ansehen, verlässt der Mann sogar sein kleines Häuschen um einen Blick auf die Straße zu werfen. Mit verwirrter Miene kommt er zurück. Heda und ich müssen uns ein Lachen verkneifen. Ja, wie sind die beiden wohl hierhergekommen? Es gab kein Motorengeräusch eines Fahrzeugs, was sie abgesetzt haben müsste. Zu einer Reisegruppe gehören sie auch nicht. Es ist und bleibt ein Rätsel.

 

Das Museum an sich ist in sehr schlechtem Zustand. Es reicht aber dennoch aus, um von dieser Frau beeindruckt zu sein. Ihre aufklärerische Arbeit war immens und das nur mit Messbändern aus Papier und Winkelmesser. Die Arbeit eines ganzen Lebens, einer Leidenschaft und der Aufopferung in diesem Haus zusehen, schafft unheimlichen Respekt.

 

Nach einer kleinen Frühstückspause wollen wir auch wieder zurück. Auf der gegenüberliegenden Seite ist eine Haltestelle… also eine Bank mit einer durchlässigen Überdachung direkt am Straßenrand. Es gibt keine Tafel mit Abfahrtszeiten… nur jede Menge Sandmücken. Während Heda nach dem Bus Ausschau hält, versuche ich im Schatten eines schmalen Holzbalkens nicht zu verdunsten. Es gibt die ersten Anzeichen, dass uns die peruanischen Vibes langsam erreichen. Statt sich in seinem deutsch-neurotischen Hirn aufzuregen, weil man nicht weiß, wie lang man warten muss, wartet man tatsächlich. Der Bus ist da, wenn er da ist. (Auch nach der Reise, ist das die Situation, die mich manchmal vor dem selbst herbeigeführten Kollaps bewahrt. Keine Panik! Alles zu seiner Zeit. Und irgendein Bus fährt immer…)

 

 

 

Als wir wieder in Nazca landen, ist es noch nicht mal zwölf.

 

„Luiseee? Ich will nochmal in richtige Wüste.“

 

Wir gehen also erneut in das sympathische Reisebüro von gestern und schildern unser Anliegen. Nach kurzer Besprechung lassen wir uns auf eine vier Stunden Tour am Nachmittag ein. Wenn das die einzige Möglichkeit ist, dann muss es halt so sein.

 

Um zwei sind wir also am Treffpunkt. Der monströse Wüsten-Rover steht schon bereit. Heda schafft es, sich direkt neben den Fahrer zu setzten. Erste Reihe. Ich pflanze mich daneben und will mich schon anschnallen. Da fuchtelt der Fahrer/Guide und bittet uns die Plätze zu tauschen. Was ist sein Problem? Hat der Angst, dass ich während der Fahrt rausfallen oder wie? Der Typ ist mir auf Anhieb unsympathisch. Lederjacke und Fliegerbrille… ich denke mir meinen Teil. Als alle sitzen geht es auch schon rasant aus Nazca hinaus. Heda beugt sich zu mir.

 

„Ist es bedenklich, dass nur Fahrer Helm trägt und wir nicht?“

 

Der Motor röhrt und es peitscht uns ein unangenehmer Wind ins Gesicht. Außerhalb der Stadt wird es noch schlimmer. Es ist sicherlich noch kein richtiger Sandsturm, aber es ist unangenehm genug, sodass wir uns Tücher vor das Gesicht binden müssen, um nicht ständig Sand husten zu müssen.

 

 

Erster Zwischenstopp: Ein Aquädukt… mehr verstehe ich auch nicht. Die englische Aussprache des Guides ist so schlecht, dass ich kein Wort verstehe. Schließlich wechselt er komplett ins Spanisch. Toll, jetzt muss ich wieder selber recherchieren, wenn ich daheim bin… Nach seinem Vortrag löst sich die Gruppe auf. Der Guide dreht sich zu mir.

 

„I can make the photo!“sagt er und greift wie selbst verständlich nach meiner Kamera. Mit einem Sprung und einem unterdrückten „Ey, Alter!“ stehe ich in kürzester Zeit zwei Meter von ihm entfernt. Warum?! (Erst später stelle ich fest, dass sich die anderen Touristen neben dem großen Loch im Boden fotografieren lassen. Er wollte mir also nicht die Kamera klauen.)

 

 

Zweiter Zwischenstopp:

 

Jetzt sind wir richtig in der Wüste. Überall nur Sand. Wir steigen an einer alten Tempelanlage aus. Der zweite Guide probiert es erst gar nicht mit Englisch.

 

„You have five minutes for photos! Then come back!”, das bekommt er noch hin. Der Wind ist inzwischen so stark, dass man aufpassen muss nicht umgeweht zu werden. Die Selfie-Menschen gehen mir dezent auf den Nerv. Die Ganze Zeit hängen die Mundwinkel auf Kniehöhe. Sobald aber die Kamera gezückt wird, posen sie in freudig-enthusiastischer „Ich bin frei“- Haltung. Danach hängen die Mundwinkel wieder.

 

 

Dritter Zwischenstopp:

 

Die Grabstätte… darauf habe ich mich am meisten gefreut. Hinter zwei riesigen Dünen halten wir an… mitten im Nirgendwo. Ich kann nichts entdecken, nur die zwanzig winzigen Aufschüttungen. Und davor ein Steinkreis gefüllt mit einem Häufchen kalkweißer Schädel, teils noch mit Haar und Haut. Grabbeigaben befinden sich zerbrochen dazwischen. Es wirkt sehr unecht, wie das hier verloren in der Wüste liegt. - Ohne Absperrung, Wetterschutz und ohne Eintrittskartenbeauftragten. Einzig eine blau gestrichene Mauer weißt auf diesen archäologischen Fund hin.

 

 

Endstadion bilden die weichen Sanddünen, die wir zunächst mit dem Rover auf und abfahren. Wie in der Achterbahn jubeln die Menschen hinter uns. Heda hält sich am Fahrgestell fest, während sie etwas auf Tschechisch murmelt. Und während die Selfie-Fanatiker sich zum „Sandboarding“ bereitmachen, nutzen Heda und ich die erste Gelegenheit und klettern die Düne weiter hinauf. Der Ausblick ist fantastisch. Der Sand wirft leichte Wellen. Wie fließender Staub zieht der Wind feine Körner über den Boden. Die Sonne steht schon tief. Heda und ich setzen uns in den Sand. Wir sind in der Wüste. Vor einer Woche noch schritten wir durch den Dschungel, kämpften etwas später gegen einen Hagelsturm auf dem Regenbogenberg und jetzt zerkratzten uns heiße, sandige Winde das Gesicht. Es gibt einen kurzen emotionalen Moment zwischen uns Zweien. Ich bin wie immer überfordert mit der Situation und wechsle schnell das Thema.

 

„Heda, hörst du das?... Es ist still!“ Kein Geräusch, kein Autohupen, kein Grillengezirpe, kein Hühnergegacker.

 

„Ich glaub, hier muss ich bleiben.“

 

Die Sonne verschwindet hinter ein paar winzigen Wolken und plötzlich wird es bitterkalt. Wir gehen zurück zum Rover.

 

„Please put your jacket on.“ Er schaut mich an. Ich starre zurück… „Please.“ Jetzt macht er auch noch einen Schmollmund?! Wie alt bin ich? Fünf? Heda lacht über meinen angesäuerten Gesichtsausdruck, als ich mir den Pulli überstreife. Im Gefährt sitzend, bietet er mir noch eine Daunenjacke an. Widerwillig ziehe ich sie drüber. Heda, die blöde Kuh, kommt aus dem Giggeln nicht mehr raus.

 

Aber auf der Rückfahrt straft mich meine „Lass mich, das geht schon“-Mentalität. Der Wind peitscht und meine blanken Beine werden knallrot. Im Laufe der Fahrt bittet er mich auch noch, die Jacke richtig zuzumachen, also jetzt wird’s langsam peinlich. Den Schal im Gesicht, rinnt mir die Rotze unaufhörlich, meine Ohren sind gefroren und drohen jeden Moment abzufallen. Erst als wir die Wüste verlassen, strahlt die Asphaltstraße etwas Restwärme ab.

 

 

 

In der Dunkelheit erreichen wir das Hostel. Auf die Fragen der Anderen, wie unser Tag so war, können wir nicht so richtig antworten. Worte wie „gut, schön, krass, anstrengend, cool“ fallen ungeachtet.

 

Im Nachhinein weiß ich… es war kein guter Tag… es war der Beste.

 

 

Bleibt gespannt. Wir sind es auch.

Herzlichst

Luise

 

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